„Wie alt ist der Käfer?“ fragt Tom während der Fahrt in die Innenstadt. „Mindestens vierzig Jahre, wenn nicht älter,“ antworte ich. Mit jedem weiteren Augenblick rechne ich damit, dass er mich als pingeliger Beifahrer verbessern will. Bisher kommt nix.

„Ich habe ebenso einen roten Käfer besessen. War geklaut worden, zu der Zeit als ich in die Bundeswehr eingezogen wurde. Aber ich brauchte eh was Schnelleres von Aachen nach Koblenz.“

„Klar, versteh ich.“ Ich verstehe. Wir beiden schauen uns kurz an.

Am liebsten hätte ich die Rolle gewechselt. Als Beifahrerin hätte ich ihn unentwegt anstarren können und seine Grübchen scannen können. Doch ich schaue nach vorn, kupple die alte Kiste von Ampel zu Ampel. Mein Smartphone vibriert in der Handtasche. „Du wirst bestimmt schon vermisst.“ Eine weitere Frage liegt Tom auf den Lippen, aber ich komme zuvor:

„Wir sind da.“ Ich biege in die Straße neben dem Hauptbahnhof ab, befinden uns also hinter dem Gebäude des Einwohnmeldeamts und parke lotti-elegant wie möglich in die letzte Lücke. Dann nehme ich mein Handy und verfasse eine kurze SPN (Sprachnachricht, für Lesende, die Abkürzungen verteufeln): „Hier ist alles glatt gelaufen. Kleid passt und ist wunderschön. Morgen Mittag kehre ich zurück.“ Buff, mehr nicht. Nicht jetzt, denke ich. Wie häufig in den letzten Jahren hatte mich Monsieur bereits warten lassen, rechtfertige ich mich im Stillen. Ich erteile mir einfach die Absolution, auch für weitere noch folgende ungereimte Aktionen.

„Wo schläfst du eigentlich?“

„Bei meinem Vater. Er erwartet mich im Laufe des Abends.“

„Dann passt auf jeden Fall eine Paternoster-Fahrt rein, ab jetzt bis zum Laufe des Abends.“

Durch die Hintertür gelangen wir in die Vorräume des Amtes. Nicht das 80iger behördengrau, sondern ein moderner taupe-weißer Look. „Hallo Zukunft, nach dreißig Jahren auch zu erwarten“, murmele ich leise. In der Ecke ein großer, wirklich ein riesiger Monitor. Hier ist die digitale Welt eingezogen, denke ich. Die umfassende Modernität scheint den nostalgischen Blickfang zu umarmen, der uns ins Auge springt. Fasziniert beobachten wir die umlaufenden Kabinen, nachdem Tom den Paternoster im Maschinenraum aktiviert hat. Ich höre die Ketten rasseln. Es gibt zwei davon. An ihnen sind die Kabinen befestigt und diese rotieren ständig in zwei Schächten.

Der Paternoster ist aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, so kommt es mir vor. Voller Ehrfurcht verharre ich und betrachte den Umlauf. Ich bin von dieser Rarität völlig eingenommen.

„Traust du dich nicht?“ flüstert Tom. Warum flüstert er nur? Wir sind die Einzigen hier. Ich bin die Einzige mit Herzklopfen. Am Morgen auf der Autobahn habe ich nicht damit gerechnet, dass mich Herzklopfen (konkreter bitte: Warum und für was klopft dein Herz?) um den Verstand bringt. Was tue ich hier? Ich sollte bei meinem Vater sitzen, mit ihm zu Abend essen und alte Freunde treffen. Ups, tue ich doch gewissermaßen. Tom und der Paternoster sind doch wie alte Kameraden. Good old friends!

„Nimm ruhig die erste Kabine,“ sage ich mit einem tiefen Atemzug. „Ich nehme dann die nächste.“ Ich kämpfe gerade mit der Überwindung. Fieses Zittern als Begleiterscheinung.

Tom springt beinahe hinein. „Drin!“ Ich sehe ihn lachend nach oben verschwinden und gerade noch seine strammen Waden, als ich mich schließlich überwinde zu folgen.

Ich stolpere ungelenk in die Kabine. Fast geräuschlos bewege ich mich von Stockwerk zu Stockwerk nach oben. Dann rasseln wieder die beiden Ketten. In diesem Moment übertrete ich die Grenze von der Erwartung zur Spannung und kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Stockwerke unzählbar sind. Hin und wieder ein leises Rumpeln bis endlich der erste Umlaufbereich erreicht ist: Der Dachboden.

Die Kabine wird jetzt auf die zweite Kette gelegt, um die Seitwärtsbewegung zu ermöglichen.

Der Dachboden wie vermutet. Altes Gebälk, fast dunkel und es roch wirklich nach uraltem Holz. Mir schwappt das Herz aus dem Brustkorb. Muffensausen pur! Ich trete von einem Fuß auf den nächsten.

Im nächsten Augenblick ruckele ich wieder abwärts.

Total überwältigt, den ersten Umlauf überstanden zu haben, geht es hinunter. Stockwerk für Stockwerk. Ich höre Toms spontanes junggebliebenes Lachen, das ich als das gleiche identifiziere wie in den Jahren unserer gemeinsamen Schulzeit und lache jetzt einfach mit. Ablenkungsmanöver, so dass er nicht realisiert wie nervös ich bin.

„Fühle mich wie in 1988,“ rufe ich johlend wie eine junge Göre.

„Welches Jahr?“ kommt es von der unteren Kabine.

„1988!“ wiederhole ich lauter als zuvor.

„1988!“ kommt als verbaler Bumerang zurück.

Der nächste Wendepunkt nähert sich. Tom erreicht den Keller zuerst, und ich höre wieder sein Lachen, wenngleich dumpfer als vorhin, dann folge ich und bin dieses Mal ein bisschen besser gewappnet: Düsterer Kellerraum. Graue Stahltüren. Ich habe nach der langen Zeit mehr Elektronik erwartet, aber es hat sich in den letzten dreißig Jahren wohl nichts verändert.

„Parterre! Zeit zum Aussteigen,“ ruft Tom mir zu.

Ich steige erleichtert aus und sehe Tom in dem großem Raum, mir seinen Rücken zuwendend, regungslos stehen.

„Ich bin Parterre ausgestiegen?“ erinnere ich ihn an meine Anwesenheit.

//Fortsetzung folgt // Copyright Claudia Buecken

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