Völlig irrwitzig, wir machen uns auf den Weg ins Jahr 1988 und sind auf der Suche nach einem gemütlichen Café an einem Samstagabend des 03.09.1988. Gemäß des Zufallsprinzips? „Dafür hatte ich damals keine Augen,“ stelle ich fest, als wir auf den ersten Blick kein Café entdecken. Tom hat vorhin noch schnell den Hintereingang des Meldeamtes abgesperrt. Der Schlüssel hat tatsächlich gepasst. „Ein Hoch auf die Baumuffel der Behörden,“ raune ich ihm zu, als er wieder zurückkommt. „Ich glaube nicht, was wir hier tun,“ wiederholt er jetzt bereits zum fünften Mal.
„Wir haben keine andere Wahl im Moment,“ halte ich für die Ewigkeit fest. „Viel schlimmer noch: Kein Netz, mehr Euro als D-Mark in der Tasche und kein Coffee to go!“
„Kein Google-Maps!“ Meine Güte, wie kompliziert das alles früher war.
„Jetzt können wir endlich wieder unsere Gehirne benutzen, welch tolle Gelegenheit.“ Das Langzeitgedächtnis braucht jetzt ein paar Anstöße. Liegt es daran, dass ich nicht allein unterwegs bin oder warum melden sich meine ständigen imaginären Begleiter nicht? Jetzt kann ich eure Hilfe echt gebrauchen. „Sie sind verschwunden, genau wie das Jahr 2020.“
„Wer?“ hakt Tom ein.
„Nicht so wichtig.“ Engelchen und Teufelchen sind vielleicht in einer anderen Zeit stecken geblieben, mutmaße ich im Stillen.
„Kennst du die Regeln einer Zeitreise?“ fragt Tom unvermittelt. Wir sitzen inzwischen auf einen der quadratischen Holzbänke an den drei Wasser speienden Springbecken auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs.
„Ich dachte, Zeitreisen gibt es nicht? Also gibt es sicherlich kein Raum-Zeit-Knigge.“
„Es gilt ausschließlich: Nur gucken, nichts anfassen.“
„Darf ich wenigstens hier sitzen, du erfahrener Zeitreise-Astronaut?“
„Eigentlich nicht. Denn du verhinderst, dass hier jemand anderes Platz nehmen kann. Das beeinflusst alle weiteren Zusammenhänge.“
„Pendler kehren zurück, Urlauber starten vielleicht hier ihre Fahrten, Jugendliche lungern hier herum und zwei aus der Zeit entsprungene Gestalten sind jetzt ein Teil der Zusammenhänge,“ sage ich gespielt trotzig. Ich habe gerade eine Szene im Auge. Ich beobachte eine junge Frau, die völlig in sich versunken auf einer der Holzbänke hockt. „Ihr geht es nicht gut.“ Ich will aufspringen, als Tom mich am Oberarm festhält. „Lass es. Greif nicht ein!“
„Unterlassene Hilfeleistung!“ sträube ich mich, die unumstößliche Wahrheit über das universelle Kontinuum anzuerkennen. Ich beobachte weiter die Szene. Mein Atem setzt kurz aus.
„Siehst du, ihr wird geholfen.“ Zwei Diensthabende der Bahnhofsmission sind da und reden auf die fast willenlose Frau ein.
Ob ich will oder nicht: Ich bin Zeugin meines eigenen peinlichen Auftritts im Spätsommer 1988. „Ich.. Tom, ja wir gehen jetzt besser. Der Abend ist noch jung,“ drängele ich, während ich auf die Bahnhofsuhr am Gebäude schaue. „In der City finden wir bestimmt ein Lokal. „Ich hab ein wenig Hunger.“
„Wir müssen haushalten. Pommes und Bier sind im D-Mark-Budget gerade so drin. Kaffee bekommst du erst in 2020, sofern es einen Weg dorthin gibt.“
Dann: „Völlig besoffen, die Kleine,“ bemerkt Tom, während ich ihn am Ärmel packe.
„Kleine? Sie ist zwanzig,“ rufe ich empört.
„Blondgelockte Haare, hübsches Kleid, schöne Beine.“ Tom lächelt mich wissend an.
„Ich kotze, ich meine, sie kotzt gerade. Sieh bloß nicht hin.“ Ich versuche, seine Augen mit den Händen zu bedecken. Gelingt mir nicht, er reagiert schneller. „Ich habe dich sofort erkannt,“ sagt er.
Mir fallen die Einzelheiten jenes Abends wieder ein: alle Facetten eines Totalabsturzes. „Ich hatte mich mit Billigbier in großen Plastikbechern angefreundet. Erstens war ich allein auf der Jahresparty des Kulturamtes, langweilte mich kolossal und zweitens war das Bier umsonst.“
„Eine nette Begleitung, Festival-Stimmung, Monatsanfang: Auch gute Gründe, sich wegzukippen.
„Liebeskummer könnte auch ein Grund gewesen sein.“ Ich mache eine kurze Pause, wobei ich mein doppeltes Lottchen nicht aus den Augen lasse. Liebeskummer wegen wen? frage ich mich. Ich bin ja oft verknallt in den Jahren von 1986 bis … hmh, open end?
„Bin nicht stolz drauf. Ich hatte dort die Nacht in der Bahnhofsmission verbracht.“
„Dann kannst du jetzt beruhigt sein. Sie wird ihren Blackout überleben.“
„Ja, sie hat ihn überlebt, Ihr Vater hat sie am nächsten Morgen abgeholt,“ bestätige ich und zwinkere Tom zu. Ziemlich sexy, die Kleine, fälle ich mein Urteil über mein jüngeres Ich.
Fortsetzung folgt// Copyright Claudia Buecken