@charlotte_schreibt: Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? (15)

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Wer steht also vor mir? Ein an den Schläfen ergrauter, aber fidel schlanker Mann in roten Sneakern, der mich perplex anstarrt. Als hätte jemand mithilfe einer Fernbedienung auf >Pause< gedrückt, um genau diese Szene zu stoppen und um den Moment so lange hinaus zu zögern. Vielleicht um Zeit zu gewinnen. Ich starre zurück, denn ich stecke ebenso in der Szene fest. Wer? Der Adressat meiner postalischen Kurznachrichten, nur in gereifter Form! Ich habe zwar vergessen, dass ich ihm in der Vergangenheit sechs Postkarten geschrieben habe – aus sämtlichen Ecken Europas – aber nicht vergessen, wer er ist.

Ich rufe die Bilder aus dem Langzeitgedächtnis ab. Plötzlich bin ich 16 Jahre alt, Teil von einer Abschlussklasse und hauptsächlich mit anderen aussichtslosen Herzensangelegenheiten beschäftigt, als ihn im Schulalltag interessant zu finden. Was heute auch noch gilt, hat damals seinen Ursprung erfahren: Never fuck the company! Niemals? Klassenfahrt in Berchtesgaden, Ski fahren, heimliches Beäugeln, erste Küsse. So viel zur Company. Aber Klassenfahrten sind doch wie Weihnachtsfeiern, sinniere ich. Es passiert da so Einiges, was dann im Gehirn auf Dachspeichern in Kisten landet. Was ich unwiderruflich nicht vergessen habe: Ich hasse Ski fahren. Der einzig unangenehme Teil der Abschlussfahrt.

Wie kommt er hierher? Ist eine rhetorische Frage, ja! Er ist bereits im Teenageralter attraktiv gewesen, dunkelbraun sein Haar und vor allem habe ich ihn als sehr lebensbejahend in Erinnerung. Kein auffälliger Störenfried wie manch anderer in der Klasse, sondern der Liebling der Lehrer. Oder im übertragenen Sinn gesprochen: Schwiegermamas Liebling. Oder alten Leuten geholfen hat, über die Straße zu gelangen. Tut er es heute noch, frage ich mich – bescheuert eigentlich – ganz unvermittelt, alten Leuten seinen Arm anbieten? Wie kann er nun vor mir stehen und meinen aktuellen Eckdatenplan beeinflussen?

Jemand muss die >Pause-Taste< deaktivieren.

Was passiert hier gerade? „Das ist Tom“, unterbricht Jola von der anderen Ecke der Wohnküche das ungeplante Bühnenbild. „Und das ist Charlotte,“ setzt sie fort. Tom nickt, hat sich aber kein Stück vom Türrahmen wegbewegt.

Das Wieso, Weshalb, Warum hängt in der Luft. „Ich habe das Kleid ersteigert,“ sage ich dünn in seine Richtung, als müsse ich meine Anwesenheit erklären. Oder anders: Als müsse ich ihn darauf hinweisen, dass der Aufzug des Lebens mich aus dem Keller geholt hat und hier absichtlich gestoppt hat, damit ich aussteigen kann. Doch wer hat den Sensor gedrückt? Fragt er sich das gerade?

Backup vom Teufelchen, das auf meiner linken Schulter hockt: Nein, fragt er sich nicht. Er ist ein Mann.

Ich ergänze mein Kapitel mit dem Frage-Wörtchen Wann. Wann mache ich mich vom Acker? „Ich ziehe das Kleid mal aus.“ Irgendwas muss ich sagen oder tun, damit die Situation überbrückt wird. Im Grunde will ich weg aus diesem Spannungsfeld, denn ist „too much“, also eindeutig zu viel Heimat und aufgewärmte Suppe. Beinahe verlegen trete ich den Rückzug ins fremde Schlafzimmer an, um in meine Alltagskleidung zu schlüpfen. So oft wie ich in den letzten zwei Stunden hier zugegen gewesen bin, ist der Raum mir nicht mehr fremd. Ich kichere und entspanne mich ein wenig.

Erste Küsse auf der Rückfahrt. Letzte Sitzreihe im Reisebus. Dort, wo die coolen Leute sitzen. Dort, wo ich bis dahin niemals gesessen habe.

Erste Küsse. Aber nicht meine ersten Küsse, erinnere ich mich mit Bedauern.

Fortsetzung folgt // Copyright/ Claudia Buecken

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