@charlotte_schreibt: Ich war noch niemals in New York (13)

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…aber ich war in Mailand gewesen, klärt mein Geist gerade mit dem Sprachkompetenz-Zentrum, das seit ein paar Sekunden versagt. Ich starre auf den Teppichboden. Ich klammere meine Augen auf den notgelandeten Papierkram. Ich beuge mich, ich verneige mich beinahe und ohne zu fragen hebe ich die Postkarte auf. „I Love Milano“ steht auf der Seite mit der Ansicht.

„Wer hat die Karte geschrieben?“ fragt Jola zögerlich. Sie steht noch immer auf der Trittleiter. Die Seitenarme flankieren angespannt ihren Körper. Sie nickt als Aufforderung, die Karte umzudrehen. Ich wende sie. „Lies vor!“ Jolas Stimme verrät Unsicherheit.

Ich lese stockend die kulliblau verblassten Zeilen: „Hallo mein Lieber, rate mal, wo ich im Moment sitze? Ich bin in der Scala von Mailand und sehe mir die Umgebung an! Nächster Stopp: Rom! Bis bald, Charlotte. 07. Juli 1988.

Charlotte.

Mein Name.

Meine Handschrift.

Mit einer hohen Dosis Verblüffung klaube ich die nächste Ansichtskarte vom Teppichboden. Bayrische Königsschlösser, 30. Juli 1988. „Hallo mein lieber Tom. Ich warte auf die nächste Pferdekutsche, die mich zum Schloss Neuschwanstein hochbringt. Es ist viel zu heiß, um zu Fuß nach oben zu gelangen. Was machst du so Schönes? Melde dich, Charlotte.“

Charlotte. Mein Name. Meine Handschrift. Mein Lieblingsschloss.

„Darf ich raten? Die anderen Karten sind auch von dir?“ Ich zucke zusammen, denn ich habe vergessen, dass ich in einer fremden Wohnung stehe, umgeben von fremden Möbeln und mich im Schlafzimmer eines Paares befinde, einem Ort, der für Fremde kein Raum sein darf. Ich hebe die restlichen Karten auf. Ich war noch niemals in New York, denke ich wieder, dafür in Nizza und in Tunesien. Es folgt ein inländischer Trip in die Fränkische Schweiz und eine landschaftsweiße Weihnachtskarte, gestempelt in Aachen. Der ein und derselbe Empfänger, die ein und dieselbe Kartenschreiberin:

Charlotte. Wie die Karten: Durchgeschleudert.

„Die zeitliche Reihenfolge,“ sinniere ich leise. Ich überschlage im Kopf meine damaligen Bahn- und Interrailtouren. „Ist die Reihenfolge denn wichtig?“ entgegnet Jola und steigt ungeschickt von der Trittleiter. Sie ist wieder auf Augenhöhe. Ihr zu Stein umgewandeltes Gesicht blickt auf die sechs Karten, die ich in beiden Händen halte. Ihre Adresse, ihr Lebensgefährte!

Fortsetzung folgt // Copyright / Claudia Buecken

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